Weit und flächig, abwechslungsreich im Detail: Erkki-Sven Tüürs Musik entwickelt einen unwiderstehlichen Sog in einer gelungenen Zusammenstellung alter und neuer Werke.
Eine Stunde Musik kann in der Wahrnehmung des Hörers gedehnt und gestaucht werden. Sie kann Spuren in Form einzelner Klänge hinterlassen und sich dann in einer freien Minute im Gedächtnis wieder entfalten, nun jedoch auf einen bloßen Augenblick gerafft. Manche Stile der Musikgeschichte sind für eine solche intensive Wahrnehmung des Moments in stärkerem Maße disponiert als andere. Beginnend mit Schönbergs ‘Erwartung’ wurde die Zeit mehr und mehr zum Denkmittelpunkt der Komponisten des 20. Jahrhunderts. Man kann die Musik Erkki-Sven Tüürs ebenfalls einem Zeitdenken zuordnen, welches ein traditionelles Form und Ordnungsdenken durch schiere Mannigfaltigkeit zerbricht.
Das erste und wichtigste Stück dieser CD, ‘Awakening’ für gemischten Chor und Kammerorchester, lässt sich in seiner prismatisch gebrochenen Gestalt kaum erfassen und es scheint von geringer Bedeutung zu sein, übergeordnete Formverläufe zu erkennen, obwohl es diese in Form der Anordnung verschiedener Gedichte estnischer Poeten im Wechsel mit liturgischen Texten zum Osterfest durchaus besitzt. Eine verbindende Botschaft, die im Werktitel und den Äußerungen des Komponisten dazu bereits anklingt, scheint zentral zu sein, geht aber im Laufe der 36 Minuten Musik in einem Strom gleicher und doch unterschiedlicher Gedanken zum selben Thema unter. Es bleibt dem Hörer überlassen, subjektiv die Momente zu wählen, nach Bedeutung zu suchen oder sich treiben zu lassen.
Die Kompositionsweise des Stücks unterstützt alle diese Zugänge durch ihren vielschichtigen Aufbau, in dem spezifische Instrumentengruppen oft einen kontinuierlichen Charakter haben und sich dennoch nahtlos in die anderen Gruppen einfügen. So schälen sich die hohen Holzbläser nur manchmal aus dem dichten Klanggeschehen und werden schon wieder unhörbar, sobald man ihnen bewusste Aufmerksamkeit zuwendet. Oft laufen verschiedene Tempi nebeneinander her, aber dann gibt es doch wieder groß angelegte Steigerungsformen nach klassischem Muster, in denen Klangmassen aufgebaut werden, die dann aber antiklimaktisch in sich zusammenfallen. Tüürs Musik blendet, doch sie ist kein Produkt eines Blenders. Ihr schillernder Glanz muss keine Lücken verdecken, denn für Oberflächlichkeit ist sie zu meditativ, zu sehr die Sinne ansprechend angelegt. Widersprüche des Tonsatzes und diverse Stile stehen sich darin offen gegenüber und es ergibt sich ein gewissermaßen demokratisches Bild, in dem der Komponist kein einzelnes Detail seiner Komposition als Zentrum bestimmt hat, sondern eine freie Wahl der Wahrnehmung des Hörers offen lässt. Das Werk entstand anlässlich des europäischen Kulturhauptstadtjahres 2011 der estnischen Hauptstadt Tallinn. Die Wirkung des Werkes verdankt sich auch der künstlerischen Zusammenarbeit des Estonian Philharmonic Chamber Choir mit der Sinfonietta Riga unter Daniel Reuss sowie der großartigen Aufnahmequalität.
Zwei ältere Werke des Komponisten, ‘The Wanderer’s Evening Song’ von 2001 und ‘Insula Deserta’ von 1989, vervollständigen das Spektrum. Beide sind etwas enger gefasst in Bezug auf den Ausdruck verschiedenartiger Stile, doch man merkt, wie Tüür von dort aus zu ‘Awakening’ gelangen konnte. In erstgenanntem Werk für gemischten Chor a capella ist ein stilistischer Rückbezug zum gregorianischen Gesang zentral. Das Werk ist in sich sehr ruhig und beschreitet die Gefilde dissonanter Reibungen zwar stetig, doch auf eine subtile Art hintergründig. Mischungen mit anderen Stilen werden in kleinen Schritten vorgenommen.
Mit ‘Insula Deserta’ für Streichorchester feierte Tüür seinen internationalen Durchbruch. Der einzelne Ton, der später in Klangmassen eingeht, ist ein Startpunkt dieses Werkes. Es trägt Züge einer rein von Klangspielen bestimmten Musik, hat aber auch minimalistische Elemente, die im homogenen Streicherklang stark intensiviert zur Geltung kommen. Auch in diesem vergleichsweise alten Stück zeigt sich schon eine reiche Klangwelt, die den Eindruck einer wie von Farbenspielen bestimmten Musik weiter fördert. Alle drei Werke bestätigen Tüür als einen der interessantesten Gegenwartskomponisten. Der Querschnitt durch sein Schaffen, den diese CD in eindrucksvoller Weise bietet, belohnt mit einem schattierungsreichen Bild von Tüürs Schaffen.