Das siebte ECM-Album (auf die 2014 veröffentlichte Siebte Sinfonie folgend) mit Werken Erkki-Sven Tüürs ist von Grund auf anders als die vorangegangenen. Unter der Leitung von Tõnu Kaljuste produzierte Manfred Eicher mit Tüür ein unkonventionelles Programm, das ebenso eine Art Rückblick — in frühere Schaffensphasen des Komponisten wie in die Musikgeschichte — darstellt, wie es neue Türen öffnet. Das Œuvre von Carlo Gesualdo (1566-1613) ist bei ECM seit Jahrzehnten ein konstanter Fokus- und Orientierungspunkt. Das von Brett Dean, 1961 im australischem Brisbane geboren und von 1985 bis 1999 Mitglied der Berliner Philharmoniker, hingegen begegnet uns hier zum ersten Mal.
Wie der Albumtitel ankündigt, ist der musikgeschichtlich einflussreiche Italiener Fokus dieser CD; es geht darum, Linien sichtbar zu machen, wie Komponisten und Interpreten sich noch heute, vier Jahrhunderte nach Gesualdos Tod, von seinem Schaffen inspirieren lassen. Neben zwei Adaptionen von Motetten (»Moro lasso« und »O crux benedicta«) für Streichorchester schrieb Tüür auf Bitte Kaljustes das Orchesterstück »L’ombra della croce«, das er als Rückblick auf seine frühe Schaffensphase um 1990 angelegt hat. Tüür greift nicht zum ersten Mal auf frühere eigene und fremde Werke zurück, doch hier ergibt sich aus der vielfachen Reflexion fast schon ein musikalisches Spiegelkabinett.
Denn neben Deans auf »Moro lasso« und Gesualdos Biografie aufbauendem »Carlo« für Chor und Streichorchester (1997, die Originalversion war für Sampler und Tape statt für Chor) überarbeitete Tüür »Psalmody«, einst für das Alte-Musik-Ensemble Hortus Musicus geschrieben, hin zu einem großen Orchesterstück, ebenfalls mit Chor, wobei er sich laut eigenen Worten in einen Dialog mit dem »Mainstream of Minimalism« aus Amerika begibt. Also ein Brückenschlag zwischen dem Tüür der Gegenwart und dem Frühwerk — dem von 1993, als er gerade sein siebenteiliges Großwerk »Architectonics« (1984-92) abgeschlossen hatte, das in gewisser Weise Grundlinien zwischen seinem frühen Schaffen als Mitglieder der Prog-Rockband In Spe und seinem darauf folgenden Oeuvre als Komponist zieht.
Entsprechend sind diese beiden aktuellen Werke überraschend zugänglich auch für Tüür-Einsteiger, fast möchte man sagen »klassisch«, wäre das nicht so irreführend bei einem Vorwärtsdenker wie Tüür. Und Brett Deans »Carlo« fügt sich wiederum erstaunlich gut in den offenen Kosmos dieses exquisit strukturierten Programms ein, eine fantasieanregende Entdeckung. (ijb)
Mit folgenden nordischen Komponisten und Werken:
Erkki-Sven Tüür: »L’ombra della croce« (2014) · »Psalmody« für Streichorchester (1993/2011)
Brett Dean: »Carlo« (1997) für Chor und Streichorchester
Carlo Gesualdo da Venosa: »Moro lasso« (1611), »O crux benedicta« (1603) (Versionen für Streichorchester, 2013)
Erkki-Sven Tüür: Erkki-Sven Tüür / Brett Dean: Gesualdo