Die Moorland Elegies seien „eine Reise in die dunkelsten, geheimnisvollsten Winkel der Einsamkeit, in die man nicht zweimal zu schauen wagt,“ hat Tõnu Kõrvits, nach Auskünften des Beiheftes einer der leuchtenden Sterne der modernen estnischen Musik, über diese Kreation aus dem Jahre 2015 geschrieben. Ich will nicht hoffen, dass er das ernst gemeint hat – und kann es mir eigentlich auch nicht vorstellen: So finster, wie uns der heute 46-jährige Komponist seine Vertonung ausgewählter Emily Brontë-Gedichte verkaufen will, ist sein Werk beileibe nicht, so dass es mir recht leicht wurde, die ausgezeichnet geratene Aufnahme mehrfach anzuhören und mich an einer musikalischen Schönheit zu erfreuen, die uns nicht finster, sondern durch ihr pures Vorhandensein eher hoffnungsvoll stimmen sollte. Kõrvits scheut sich nicht, vertraute Gebilde einzusetzen, mit regelrechten Melodien und tonalen Klängen bis hin zu „close harmonies“ zu arbeiten; er nutzt die alte, große und ehrwürdige Chortradition des Baltikums mit der authentischen Empfindung des „native speaker“, kombiniert damit eine außerordentlich delikate, fesselnde Streichorchester-Ebene, deren überaus facettenreich aufgefächertes Spektrum sich mal in die vokalen Linien und Wogen einschleicht, mal stützend im Hintergrund wirkt und dann wieder mit zupackenden dramatischen Klängen messerscharfe Lichtstrahlen ins meditative Moorland fallen läßt.
Bei der Realisation der Aufnahme standen dem Komponisten zwei vorzügliche Ensembles, ein offenbar ungemein sensibler Dirigent und überdies zwei Solistinnen zur Verfügung, die ihre jeweiligen Partien zum Erlebnis machen: Die Sopranistin Jaanika Kilgi durchzieht den neunten und letzten Satz der Elegien mit einer geradezu himmlischen Spur, und die Altistin Marianne Pärna umgarnt uns in den Sätzen 3 und 6 mit ihrer ganz leicht „erdigen”, dabei aber völlig schwerelosen Stimme, die allein schon dazu angetan wäre, einen zweiten und dritten Blick in die „dunkelsten, geheimnisvollsten Winkel der Einsamkeit“ des Brontë’schen Moorlandes zu riskieren. Doch ich komme ins Schwärmen, und das steht dem Criticus bekanntlich nicht an, weshalb ich mich schließlich ganz einfach auf drei Höchstnoten beschränke.
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