Arvo Pärts als Auftragskomposition der Kulturhauptstädte Istanbul (2010) und Tallinn (2011) entstandene Partitur „Adam’s Lament“ ist der Hauptteil des Hybrid-Werkes „Adam‘s Passion“. Schauplatz der Uraufführung 2015 in Tallinn war eine U-Bootfabrik aus der Zarenzeit, die von der Sowjetmarine bis zur 1999 vollzogenen Unabhängigkeit Estlands genutzt wurde. Trotz der bezwingend realisierten Visionen Robert Wilsons, der im November 2009 bei einer Audienz von Papst Benedikt XVI. mit Arvo Pärt die Idee zu dieser Zusammenarbeit gefunden hatte, könnte man die im Konzerthaus Berlin wiederholte Produktion nur bedingt als Bühnenwerk bezeichnen. Große Überraschungen brachte dieses Gipfeltreffen von Arvo Pärt und Robert Wilson nicht.
Der Titel lässt auf ein spirituelles Thema im Gefolge post-apokyrpher Belletristik wie José Saramagos „Evangelium nach Jesus Christus“ oder Éric-Emmanuel Schmitts „Evangelium nach Pontius Pilatus“ schließen. Auch mystische Visionsschriften inspirierten Robert Wilson möglicherweise zu diesem Musiktheater, das in Berlin als Passionstheater ohne Heiland oder Erlösung zu erleben war. 

Am ehesten ist „Adam’s Passion“ eine spirituelle, nichtliturgische Kantate, die ergänzt mit Pärts Robert Wilson gewidmeter, ouvertürenartiger „Sequentia“ für Streichorchester und Schlagwerk (Uraufführung 2015), mit der Eri Klas, Gidon Kremer und Tatjana Grindenko gewidmeten „Tabula rasa“ (1977) und schließlich dem „Miserere“ (1999 für Paul Hillier und das Hilliard Ensemble) auf pausenlose neunzig Minuten kommt.

Beim parallelen „Entschleunigungsmodus“ im Schaffen der beiden Ausnahmekünstler Pärt und Wilson ist es überaus erstaunlich, dass sie erst so spät zusammenfanden. Dieses scheinbar einfache, aber höchst artifiziell generierte Projekt reibt sich eigentlich am Gold und Weiß des Berliner Konzerthauses. Bei den drei Aufführungen musizieren das Konzerthausorchester und der Estnische Philharmonische Kammerchor auf dem ersten Rang. Auf dem vorderen Podium ereignet sich Robert Wilsons einmal mehr transsphärische, magnetische Zeitlupenchoreographie aus Licht, Figuren und Material. Sogar in der Zusammenarbeit mit dem seine Kreativität aus dem Christentum und der russisch-orthodoxen Konfession schöpfenden Pärt geht Wilson einem spirituellen Bekenntnis aus dem Weg und spricht vom „geistigen Raum, der Reflexion zulässt.“

„Adam’s Lament“ liegt ein Text des orthodoxen Mystikers Siluan von Athos (1866-1938) zugrunde, in dem Adam stellvertretend für alle Menschen, ohne Erwähnung Evas oder gar Liliths, seine Entfremdung von Gott durch eigene Schuld, die irdische Schwere, den Tod Abels und die Feindschaft seiner Nachkommen untereinander beklagt.

Auffallend ist die über Jahrzehnte harmonisch und formal stabile Homogenie von Pärts Partituren, die für westliche Ohren gewiss sakrale Assoziationen anbietet, diese aber auch stilisierend ins Allgemeine weitet. Sein „Miserere“ (1989/92), das den „Dies Irae“ im fünfzigsten Psalm in eine epische Komposition für solistisches Vokalquintett, Chor und Orgel transformiert, schafft immerhin eine inhaltliche Fortsetzung. Aus Adams Klagerufe folgt ein Aufschrei aller aus dem menschlichen Elend. Trotzdem wird man den Eindruck nicht los, dass es sich bei diesem musikszenischen Konstrukt, das eine profan neu erzählte Vertreibung aus dem Paradies und Eilzug durch die Zivilisationsentwicklung zusammenwirft, letztlich um ein ein „Best of“ und Co-Branding der wesensverwandten Künstler handelt. Unbestreitbar ist die hohe Qualität unter dem souveränen kenntnisreichen Tönu Kaljuste am Pult, machen die schönklingenden Solo-Violinen (Sayako Kusaka, Johannes Jahnel) und Angela Gassenhuber (Klavier) ebenso Effekt wie Maria Valdmaa, Marianne Pärna, Raul Mikson, Tiit Kogerman und Henry Tiisma im „Miserere“. Eine tiefer reichende emotionale Bewegung des Auditoriums bleibt aus. Schon im Verklingen spürt man die hohe Sättigung an der erwartungsgemäß grandiosen Meisterschaft.

Im nachtblauen Flächenlicht steht auf dem Steg ins Parkett ein nackter Adam. Dessen Darsteller mit dem symbolträchtigen Namen Michalis Theophanous machte schon im Tanzstück „Primal Matter“ bei den Wiener Festwochen und andernorts den entblößten männlichen Körper zum Kunstheiligtum: „Seiner Sünde wegen war die Liebe verloren.“ heißt es bei Siluan von Athos. Kongruent zum Text der Adamsklage verzichtet Robert Wilson auf Eva und macht dafür eine Frau in alterslosem Weiß zu Adams ihm ferner Meisterin. Lucinda Childs ist seit „Einstein on the Beach“ und über vierzig Jahren die Venus und Athene des Wilsonschen Welttheaters. Hier wird sie zur Schöpferin des bald bevölkerten Bühnenkosmos und eine platonische Sophia für Adam, dessen Präsenz ohne Lilith oder Eva wie eine Erlösung von Wilsons Gnaden anmutet. Real kampfartige oder existentielle Duelle zweier Paare beenden den harmonischen und allenfalls minimal narzisstischen Urzustand Adams, des hier namenloses Mannes. Jetzt wird die überirdische Muse zum weiblichen Prometheus. Unschuldige Kinder besiedeln im Weiß vollendeter Bravheit die Stab-Umrisse eines Häuschens mit Giebeldach. Am Ende erobert sich ein „Tree Chorus“ den Raum. Von einem metallenen Riesengerüst fluten Lichtsäulen in den Saal und zerreißen das hymnische Nachtblau. Das Kollektiv in Schwarz, das wohl trübes Schattendasein meint, balanciert auf den Häuptern grünende Äste wie einige musikalische Sätze früher der schöne Adam. Er wurde so zum „Homo faber“ und kehrt zum Finale im grauen Anzug als alltäglicher Jedermann zurück. „Jetzt ist es aus.“, murmelt eine Frau im Parkett sofort. Erwartungsgerecht üppig brandet der Applaus auf die Szenographie der beiden Altmeister. Mit vielleicht mehr versinnlichter Erleichterung als Begeisterung. Aber auch in balsamischer Freude darüber, dass Wilson aus Pärts Partituren ein letztlich doch spirituelles, die Zeit überwindendes Bildertheater mit kultischen und auch genussintensiven Momenten bietet. Schön, elitär und mit gut verträglicher Metaphysik.

Arvo Pärt legte eine weitere Sinnkuppel über „Adam’s Lament“, in dem er die Partitur dem Industriellenspross und Mystiker Archimandrit Sophrony widmete, der Kommunikation als Sein und Liebesakt, nicht nur als geistige Verschmelzung, betrachtet. Ist „Adam’s Passion“ vielleicht sogar ein verkapptes erotisches Mysterium wie Korngolds zeitgleich an der Deutschen Oper zu erlebendes „Wunder der Heliane“?

 

27., 28., 29. März 2018 – Konzerthaus Berlin

Adam’s Passion. Musiktheater von Arvo Pärt und Robert Wilson – KONZERTHAUSORCHESTER BERLIN – ESTNISCHER PHILHARMONISCHER KAMMERCHOR – TÕNU WILSON – Eine Produktion von Robert Wilson basierend auf Arvo Pärts Werken für Chor und Orchester “Adam’s Lament”, “Miserere”, dem Doppelkonzert für zwei Violinen “Tabula Rasa” sowie dem Orchesterwerk “Sequentia”

 

https://www.nmz.de/online/wohlvertraegliche-metaphysik-von-arvo-paert-und-robert-wilson-adam-s-passion-im-konzerthaus-b