Den estnischen Komponisten Tõnu Kõrvits, Jahrgang 1969, verbindet man sicherlich in besonderem Maße mit seinen größer angelegten Werken für Chor und Streicher, auch wenn ein genauerer Blick auf sein Werkverzeichnis verrät, dass er eigentlich in vielen verschiedenen Besetzungen zu Hause ist. Dennoch scheint die Vokalsinfonik (oder vielleicht eher -kammersinfonik) auf den Komponisten einen besonderen Reiz auszuüben, und nicht umsonst sind all seine größer angelegten Werke dieses Genres rasch auf CD erschienen. So verhält es sich auf der vorliegenden Neuerscheinung auch mit seinem jüngsten, 2021 vollendeten Gattungsbeitrag, der den Titel Der Klang der Flügel trägt und an die Flugpionierin Amelia Earhart erinnert. Mit dem Estnischen Philharmonischen Kammerchor und dem Tallinner Kammerorchester unter der Leitung von Risto Joost sind Interpreten im Einsatz, die mit Kõrvits’ Klangsprache bestens vertraut sind.
Abstrakt-poetische Hommage an Amelia Earhart
Bei der Textvorlage der estnischen Dichterin Doris Kareva, die bereits häufiger mit Kõrvits zusammengearbeitet hat, handelt es sich nicht um eine konkrete Nacherzählung von Leben und Wirken Amelia Earharts, sondern um eine Art poetisierte Abstraktion, die Themen wie Luft, Himmel, das Fliegen, Liebe, Tapferkeit oder Hoffnung behandelt – nicht zufällig fällt der Name Amelia Earhart kein einziges Mal. Und so hat auch Kõrvits eine nicht im eigentlichen Sinne deskriptive Musik geschaffen; sein Zyklus von neun Gedichtvertonungen und zwei instrumentalen „Brücken“ (einmal als Einleitung, einmal vor dem resümierenden Schlussstück) ist eher eine Art Reflexion, Meditation über all diese Themen, getragen von einer Atmosphäre großer Ruhe und Abgeklärtheit. Dies korrespondiert mit eher gemäßigten, aber nicht demonstrativ langsamen Tempi, meist irgendwo im Bereich etwa zwischen Andante molto und Allegro moderato. Selbst dann, wenn im Text von „purer Freude“ die Rede ist (Nr. 2), begreift Kõrvits dies eher intim-verhalten, auch dann, wenn ein „Abgrund“ erscheint (Nr. 3), geschieht dies in Form eines Hs in den Bässen und dunkel getönten Dissonanzen in den tiefen Lagen, aber niemals grell oder aggressiv.
Modal getönte Streicherakkordik und volksliedhaftes Melos
Überhaupt liebt Kõrvits sanft ineinander übergehende, modal getönte Streicherakkordik, gerne mit einer gewissen Ambivalenz zwischen Dur und Moll, was der Musik die Aura eines mild-resignativen Lächelns und eine gewisse romantische Note verleiht. Die Prägung durch die Minimal Music und natürlich die baltische Schule eines Pärt oder Vasks ist zwar nicht zu leugnen, aber dabei bleibt es nicht, wie Kõrvits’ Tonsprache überhaupt Dogmatismus fremd ist. So könnte man in der Einleitung mit ihrem sacht in Quinten auf- und wieder absteigenden Violasolo, zunächst im Flageolett gehalten, auch an Vaughan Williams’ The Lark Ascending denken. Und ganz anders als viele Zeitgenossen auch aus dem Baltikum schreibt Kõrvits eine Musik, in der das Melos eine zentrale Rolle einnimmt, sicherlich geschult am estnischen Volkslied (wie die baltischen Länder ja ohnehin für ihre reiche Lied- und Gesangskultur berühmt sind), lyrisch, klar und unmittelbar kommunizierend, nur gelegentlich (Nr. 4) womöglich etwas sentimental.
Luft, Wind und der Klang von Schwingen
Zu einer Reihe von Schlüsselelementen und -motiven gehören gewisse tonale Zentren (wie H-Dur, der Tonart, mit der der Chor einsetzt und endet), die bereits erwähnten Gesten der Soloviola als Repräsentation von Luft und Wind, aber auch eine spezifische musikalische Umsetzung des Titels des Werks, der mehrfach in Karevas Versen erscheint. Erstmals zu beobachten ist dies in Nr. 3: die den beiden Worten Tiibade hääl (so das estnische Original) eigene Sprachmelodie transformiert Kõrvits in ein Motiv im Siciliano-Rhythmus, und gleichzeitig „schwingt“ sich die Musik förmlich auf, gerät der Streicherteppich in Bewegung in Form von sanft rauschenden, flirrenden Gesten, dem Klang von Flügeln eben, aber wiederum poetisiert – das Maschinelle wird herausgefiltert, und mit dem Resultat könnte man ebenso auch Vogelschwingen assoziieren. Explizite Dramatik oder größere Kulminationspunkte sind diesem insgesamt dezidiert homogen Zyklus über die gesamten 50 Minuten hinweg eher fremd, was man je nach Standpunkt vielleicht als Manko begreifen kann, aber es ist doch eine Musik, die ihre Momente hat, die im Gedächtnis bleibt.
Exzellente Interpretationen
Abgerundet wird die CD mit einer kleinen Zugabe, nämlich Kõrvits’ Sonntagswunsch erneut nach einem Text von Kareva, ursprünglich (2020) ein Werk für Mädchenchor, zwei Jahre später für Sopran, Chor und Streicher bearbeitet. Ein kurzes Lied mit Refrain, ein Lob der Natur mit einer gewissen sakralen Note, das mit ganz ähnlichen musikalischen Mitteln arbeitet wie Der Klang der Flügel. Der Klang der CD ist ausgezeichnet, die Leistungen der Interpreten ist vorzüglich, speziell angesichts des famos homogenen, die weiten kantablen Linien und warme, lichte Harmonik dieser Musik exzellent nachvollziehenden Estnischen Philharmonischen Kammerchor.
Holger Sambale
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